Analyse

Ausgabe: 01 / 23 Lesedauer: min

Wie Commerce-Betreiber an frisches Geld kommen

Wie Commerce-Betreiber an frisches Geld kommen

An frisches Kapital zu kommen, wird in diesem Jahr für Commerce-Betreiber nicht leicht. Das schlechte Konsumklima verschreckt Investoren, sie üben sich vornehm in Zurückhaltung. Die traditionell noch vorsichtigeren Banken ebenso. Worauf es ankommen wird, ist eine alte unternehmerische Tugend: zu wissen, wo das Geld bleibt, und Gewinn zu machen. Dann lassen sich auch neue Finanzinstrumente wie Revenue Based Financing gut nutzen.

Das letzte Jahr hat deutliche Spuren hinterlassen: Namhafte Unternehmen aus der Digitalwelt mussten kräftig Federn lassen - Payment-Dienstleister wie Klarna und Stripe etwa, aber auch Amazon haben erheblich an Wert eingebüßt und Tausende Mitarbeiter entlassen. Sparen heißt die Devise. Für manchen Händler blieb sogar nur der Schritt in die Insolvenz. Keller Sports, Windeln.de und Görtz etwa hat es getroffen.

Wer Investoren sucht, hat derzeit schlechte Karten: Nach Berechnungen des Risikokapitalgebers Atomico sind die Investitionen in europäische Tech-Firmen in diesem Jahr gegenüber dem Rekordjahr 2021 massiv eingebrochen. Der deutsche Markt bekam die Krise mit einem Rückgang der Investments von knapp 19 auf rund 11 Milliarden Euro besonders zu spüren. Dementsprechend sind die Multiples deutlich gesunken. Mit diesen Werten werden die Unternehmenskennzahlen wie das Ebitda multipliziert, um den Unternehmenswert festzulegen. Lagen die Multiples für E-Commerce-Unternehmen im Zwölfmonatsmittel zwischen Oktober 2021 und Oktober 2022 noch bei 1,5, machte das M&A-Beratungs- und Tech-Investitionsunternehmen GP Bullhound für Oktober 2022 gerade mal noch einen Wert von 0,7 aus.

Prinzipiell sei noch genügend Geld im Markt, "aber es wird im Moment nicht ausgegeben, weil das schlechte Konsumklima den Investoren Angst macht", urteilt Christian Ogait, Gründer von Papa Oscar Ventures. Denn: Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Menschen in Deutschland so wenig konsumiert wie derzeit.

Quelle: Shutterstock (Creative composition)

Es zählt vor allem Profitabilität

Um Investoren für sich zu gewinnen, zählt daher vor allem eines: Profitabilität. Das sagt Erik Reintjes, Co-Founder und CEO des Farben-Händlers Miss Pompadour. Und er muss es wissen - hat er doch im August 2022 eine erste siebenstellige Finanzierungsrunde an Land gezogen. Geldgeber ist Fure Capital, ein Investorenkreis rund um die E-Commerce-Experten Jochen Krisch und Sven Rittau. So war Miss Pompadour auch gar nicht auf der Suche nach Investoren, als sich der Deal angebahnt hat.

"Wir waren drei Jahre lang komplett gebootstrapped, also ohne Investorengelder unterwegs, sind organisch Schritt für Schritt gewachsen", betont Reintjes stolz. Bei einer persönlichen Begegnung wurde Sven Rittau auf das Do-it-yourself-Label aufmerksam, bekam Interesse, und schließlich fädelten die beiden über ein Jahr lang den Deal ein. Investorengeld dürfe kein Lückenfüller sein, der das nackte Überleben sichere, sondern müsse gesundes Wachstum generieren, ist Reintjes überzeugt.

"Ich muss zeigen, dass ich Geld verdienen kann"

Egal wen man fragt, Investoren, M&A-Berater, Commerce-Betreiber, alle sind sich einig: 2023 steht im Zeichen der Profitabilität. "Das operative Geschäft muss einen positiven Deckungsbeitrag aufweisen", sagt Thomas Antonioli, der ebenfalls in schwierigen Zeiten Geld beschafft hat. Der Chief Financial Officer von Grover hat für den Miet-Commerce-Anbieter im vergangenen September 270 Millionen Euro besorgt. "Als Unternehmer muss ich zeigen, dass ich Geld verdienen kann" so Antonioli. Die jüngste Finanzspritze stammt vom Investor M&G Investments, der Grover einen besicherten Kredit zur Verfügung gestellt hat. Damit schafft Grover die Elektronikgeräte vom iPhone, über E-Scooter bis zum Saugroboter an, die an die Kunden vermietet werden. Gleichzeitig dienen sie als Sicherheit für den Kredit.

Grover setzt auf eine Mischfinanzierung, nutzt verschiedene Finanzierungsformen, je nachdem, wofür das Kapital benötigt wird: Für reine Wachstumsausgaben beschafft sich das Start-up Eigenkapital - so geschehen im April 2022, als eine Investorengruppe unter der Führung von Energy Impact Partners 110 Millionen Euro bereitgestellt hat. Zeitgleich holte sich Grover 220 Millionen Euro in Form von Venture Debt. Dieses Instrument oder auch Revenue Based Financing hält Antonioli auch für sinnvoll, um die Zeit bis zu einer weiteren Finanzierungsrunde zu überbrücken - etwa wenn Ziele noch nicht erreicht sind, entscheidende Unternehmenskennzahlen noch nicht vorliegen oder das Geld nicht wie vorgesehen für die nächsten zwölf, sondern nur noch für sechs Monate reicht. Grover hat vor zwei Jahren Venture Debt zur Zwischenfinanzierung genutzt.

Mit dem jüngsten Darlehen über 270 Millionen Euro kauft Grover die Elektronikgeräte, die es vermietet.

Mehr Optionen als früher

Hier hat sich der Markt deutlich verändert: Gab es vor 20 Jahren kaum andere Möglichkeiten, sich Geld zu beschaffen als einen klassischen Bankkredit, gibt es heute viel mehr Optionen, betont Peter Höschl. Der Controlling-Spezialist unterstützt mit seinem Beratungsunternehmen Marcedo E-Commerce-Firmen in Sachen Firmenverkauf. Und die gilt es gezielt und strategisch auszunutzen: Da sind beispielsweise Business-Kredite von den Zahlungsdienstleistern PayPal, Klarna oder Mollie verfügbar, die ihren Geschäftskunden auf Basis der abgewickelten Transaktionen kurzfristig 100.000 oder sogar bis zu 250.000 Euro zur Verfügung stellen.

Auch Amazon hilft seinen Händler gemeinsam mit der ING Bank mit bis zu 750.000 Euro aus. Einkaufs- und Lagerfinanzierungen, Factoring und Leasing, Venture Debt, Revenue Based Financing sind weitere Optionen jenseits der Finanzspritzen von Wagniskapitalgebern.

Zu Beginn des Jahres war es für Händler am schwierigsten, mit der Bank über einen Kredit zu verhandeln.

Dennoch tun sich Händler noch leichter als der Durchschnitt aller KMUs.

Quelle: KfW Research: "KfW-ifo-Kredithürde Q3 2022"

Finanzierungsformen

Firmenleasing:

Teile der Geschäftsausstattung wie Maschinen, Fuhrparks, Lagerausstattung oder Technik werden gemietet statt gekauft. Leasing eignet sich für Unternehmen aller Größen. Monatliche Nutzungskosten hängen von der Laufzeit, der Nutzungsintensität, der Bonität und dem Restwert nach Ende der Vertragslaufzeit ab. Teilweise fallen neben den Monatsraten Anzahlungen und Schlusszahlungen, Versicherungs- und Unterhaltungskosten an. Vorteil: Die Investitionskosten sind zeitlich gestaffelt, es sind keine Kredite nötig, die Liquidität bleibt erhalten. Zudem sind Leasing-Raten als Betriebsausgaben steuerlich absetzbar. Anbieter: Leaseback, Lenuva, Fimavo

Factoring:

Um kurzfristig die Liquidität zu verbessern, können Unternehmen ihre offenen Forderungen verkaufen. Dieser Forderungsverkauf wird als Factoring bezeichnet. Der Factor zahlt dabei den offenen Betrag sofort ganz oder teilweise aus und kümmert sich selbsttätig um die Zahlung durch den Schuldner. Vorteil: Das gerade im Handel hohe Risiko von Forderungsausfällen sinkt, die liquiden Mittel steigen, die Unternehmensbilanz verbessert sich. Dadurch kann ein Unternehmen auch sein Rating für eine Kreditvergabe durch eine Bank verbessern. Die Kosten bestehen aus individuell vereinbarten Gebühren und Zinsen, die meist in zwei Raten bei Rechnungsstellung und nach Bezahlung der Gesamtsumme fällig werden. Anbieter: Billie, Crefo Factoring, FundFlow, Via Trade, Wolf Factoring

Einkaufsfinanzierung (Finetrading):

Die Einkaufsfinanzierung dient der Zwischenfinanzierung von Einkäufen und ist daher gerade auch für den Handel interessant. Ein Zwischenhändler bezahlt sofort die Rechnung des Lieferanten und kann so eventuelle Skonti und Rabatte nutzen. Gegen eine Gebühr räumt er dem Unternehmen dann ein verlängertes Zahlungsziel ein. Vorteil: Vorfinanzierung der Ware, insbesondere zu saisonalen Spitzenzeiten, verbesserte Einkaufskonditionen und Skonti durch sofortige Rechnungszahlung. Die Kosten setzen sich meist aus einer einmaligen Einrichtungsgebühr und einer laufenden Gebühr zusammen. Anbieter: Ayfinio, Fulfin, Modifi, Myos, Tradico, Via Trade

Lagerfinanzierung:

Die Lagerfinanzierung ist speziell für den Einzel- und Großhandel und Hersteller interessant, da sie die in der Lagerware gebundenen Mittel verfügbar macht. Vor allem KMU (> eine Mio. Euro Jahresumsatz) mit größeren Lagerbeständen (> 200.000 Euro Warenwert) können so ihre Liquidität verbessern. Der Warenwert wird von neutralen Gutachtern geprüft. Vorteil: Gebundenes Kapital wird freigesetzt, die Kreditlinie bei der Hausbank wird entlastet, der Zinssatz fällt nur für das jeweils angerufene Kapital an. Die Kosten bestehen aus einem von Bonität, Lagerbestand und Laufzeit abhängigen Zinssatz sowie einer Verwaltungs- und Prüfgebühr. Die Konditionen sind häufig besser als bei einem Bankkredit. Anbieter: Labest, Myos, Fulfin

Und auch der gute alte Bankkredit kann weiterhin als Geldquelle dienen - auch wenn die Hürden für einen solchen Kredit höher liegen als früher. Handelsunternehmen haben dabei noch bessere Karten als etwa Dienstleistungen oder das produzierende Gewerbe. Lohnen kann sich auch ein Blick auf staatliche Zuschüsse und Darlehen, etwa das Programm Digital-Plus. Darüber kann sich ein Mittelständler bis zu 100.000 Euro als Investitionszuschuss vom Bundeswirtschaftsministerium holen. Neben der Kreditanstalt für Wiederaufbau, kurz KfW, vergeben auch Investitionsbanken der Bundesländer günstige Darlehen. Die verfügbaren Summen sind zwar teilweise überschaubarer, dafür muss ein Zuschuss nicht zurückgezahlt werden. Und die Investitionsbanken legen weniger strenge Kriterien an als die Hausbanken. Nachteil: "Das ist kein schnell verfügbares Geld, die Planungszeit liegt eher bei zwei bis drei Monaten", so Ogait von Papa Oscar Ventures.

Den Fokus verschieben

Er sagt: "Wichtiger ist, den Fokus zu verschieben. Weg von 'Wie komme ich an Geld?' und hin zu 'Wie verdiene ich Geld?'." Bei der derzeitigen Marktlage sei es die Zeit, die in die Suche nach Geldgebern fließe, nicht wert. Diese kann besser dazu dienen, sich gut aufzustellen. Und das heißt:

• Prüfen, ob das bestehende Geschäftsmodell wirklich tragfähig ist

• Marketing-Mix überprüfen

• Auf Bestandskunden fokussieren

• Prüfen, ob Services entlang der Wertschöpfungskette ausgebaut werden können

• Nach Möglichkeit Einkaufspreise senken und/oder Verkaufspreise erhöhen, um die Marge zu sichern

• Sparpotenziale ausfindig machen

• Wachstumstempo drosseln

Vor allem die Zeit des extrem schnellen Wachstums ist vorbei. Statt 100 Prozent sind eher 50 oder nur noch 30 Prozent realistisch. "Wenn der Umsatz mal sinkt, ist das nicht schlimm", sagt Ogait, "der Rückgang muss sich halt vernünftig erklären lassen" - etwa dadurch, dass ein unrentabler Vertriebskanal geschlossen wurde. Und wer wenigstens für drei oder vier Monate seine Kennzahlen verbessere, stehe schon damit gegenüber potenziellen Geldgebern besser da. Daher hat etwa auch Grover den Rotstift angesetzt und zum Jahresende rund 40 Mitarbeitende, etwa zehn Prozent, entlassen.

Erik Reintjes, Miss Pompadour
"Wir waren drei Jahre lang komplett gebootstrapped, sind organisch Schritt für Schritt gewachsen."

Zahlen wirklich im Griff haben

Für Höschl zählen vor allem zwei Dinge. Erstens, die eigenen Zahlen wirklich im Griff zu haben, sodass sie auch kritischen Nachfragen standhalten - und zweitens: große Transparenz. Er geht davon aus, dass Beteiligungen in diesem Jahr an Bedeutung gewinnen werden, und zwar sowohl Minderheits- als auch Mehrheitsbeteiligungen. "Vielen Händlern wird so langsam bewusst, dass E-Commerce kein reiner Selbstläufer mehr ist und wie riskant ihr Tun eigentlich ist", sagt der Berater. Daher sehnen sich viele danach, das wirtschaftliche Risiko nicht mehr allein tragen zu müssen.

Und das kann sich durchaus lohnen: Mit einem geeigneten Partner, bestenfalls einem strategischen Investor, kann das Unternehmen im Idealfall so viel stärker wachsen, dass ein 15-Prozent-Anteil in fünf Jahren mehr wert sein kann als das ganze Unternehmen, das nur aus seinen begrenzten Mitteln gewachsen ist. Die Gründer und Geschäftsführer bleiben seiner Erfahrung nach meist an Bord. Die Investoren schätzen deren Know-how und Herzblut für die weitere Unternehmensführung.

Klar ist: Die Lage bleibt zunächst noch schwierig. Ogait rechnet erst im letzten Quartal dieses Jahres mit einer Besserung. Daher fürchtet er, dass 30 Prozent der Unternehmen, die jetzt im Kern nicht gesund sind, auf der Strecke bleiben werden.

Christiane Fröhlich

Als freie Autorin beobachtet Christiane Fröhlich, welche Trends, Hypes und Flops die Commerce-Branche alljährlich produziert. Außerdem entstehen an ihrem Schreibtisch Artikel zu den technischen Aspekten von Web-Präsenzen: Shopsoftware und IT-Architektur, alle nötigen Lösungen rund um den Webshop, Usability oder Logistik sind die Themen. Dem E-Commerce und der Internetwirtschaft ist die Diplom-Journalistin seit 1997 verfallen; seither schreibt sie darüber, wie sich im Internet (mehr) Geld verdienen lässt.
Neue Gesetze 2023
Nächstes Thema