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Interview

Ausgabe: 03 / 23 Lesedauer: min

Elena Gatti: "In China findet Conversational Commerce oft in Gruppen statt"

Beim Conversational Commerce ist China dem Westen weit voraus. Im Interview erklärt Elena Gatti, Managing Director Europe beim Internationalisierungs-Experten Azoya, warum das Onlineshopping per Messaging und Chat im Reich der Mitte so gut funktioniert.

Elena Gatti
Managing Director Europe / Azoya
Azoya

Dass die Messaging-App WeChat in China auch im E-Commerce eine überragende Rolle einnimmt, ist mittlerweile allgemein bekannt. Wie steht es dort aber um den Conversational Commerce, also um dialogbasierte Onlineshopping-relevante Formate im engeren Sinn?

Das ist auch in China ein Thema, sogar schon seit einigen Jahren. Conversational Commerce läuft dort oft unter dem Überbegriff "Private Domain", womit die direkte Kommunikation von Brands mit ihren Kunden gemeint ist. Solche Formate sind in vielen Apps integriert, zum Beispiel in TikTok oder in den E-Commerce-Plattformen Taobao und Alibaba. Am effizientesten und am stärksten transaktional ausgerichtet ist der Messaging Commerce aber in WeChat.

E-Commerce findet auf WeChat ja vor allem innerhalb von Shopping-Widgets, sogenannten Mini-Programmen, statt. Wie funktioniert echter Conversational Commerce in der Super-App?

Conversational Commerce ist in China weniger ein 1:1-Thema, sondern findet vielmehr innerhalb von Gruppen statt. Die Brands motivieren ihre Kunden - zum Beispiel per QR-Code - WeChat-Gruppen beizutreten, in denen Moderatoren oder oft auch bekannte Influencer die Kommunikation rund um die Marke steuern. Das Ganze basiert auf Messaging, kann aber auch immer wieder durch Streaming-Formate ergänzt werden. Die Grenzen zwischen Conversational Commerce und Live Shopping sind hier fließend. Je nach Bekanntheit der Brand können solche Gruppen eine Größe von ein paar Dutzend Mitgliedern bis hin zum technischen Limit von 500 Usern annehmen.

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Wie kann man sich die Kommunikation in solchen Gruppen vorstellen? Als eine Art ständig laufendes Verkaufs- und Beratungsgespräch?

Überhaupt nicht. Die Kommunikation in solchen Gruppen verläuft oft wie unter Freunden. Das ist viel breiter als nur das Thema Verkaufen. Ein Gruppenmitglied kann auch zum Beispiel einfach sagen, dass es einen schlechten Tag hat und erhält dann von den anderen Chat-Teilnehmern aufmunternde Worte und Ratschläge. Oder in Gruppen zu Kosmetik-Brands nennen sich die Moderatorinnen oft "Beauty Advisor" und geben den Mitgliedern Haut- und Pflegetipps oder beantworten Fragen aller Art.

Das klingt stark nach einer Social Community. In welcher Form wird der Commerce-Gedanke in solchen Gruppen umgesetzt?

Das passiert in der Regel durch Shopping-Links, die in den Chat gepostet werden. Diese Links führen dann in das Mini-Programm der betreffenden Marke, wo dann die echte Conversion stattfindet. Aber das alles geschieht weiterhin innerhalb von WeChat, die Kunden zahlen auch per WeChat und müssen für keinen Bestellschritt zusätzlichen Daten eingeben oder zu einer externen App wechseln. Das ist ein großer Unterschied zum Conversational Commerce im Westen: Hier sind meistens mehrere Klicks nötig, damit liegt die Schwelle zur Conversion höher.

Wer sind die Player, die in China solche Messaging-basierten E-Commerce-Formate nutzen: Sind das die großen Markenhersteller und Onlineshops?

Ja, auf jeden Fall. Aber auch kleinere Marken und Shops sowie stationäre Händler setzen auf Messaging Commerce. Ich kenne zum Beispiel einen Händler mit fünf Geschäften. Über QR-Codes werden die Kunden dort in die WeChat-Gruppe eingeladen und der Online-Umsatz, der daraus resultiert, ist inzwischen höher als die gesamten stationären Verkäufe.

Bei uns läuft Conversational Commerce oft über Bots und KI-basierte Chatroboter. Ist China hier dem Westen ebenfalls schon voraus?

Eher nicht. Es gibt sehr gute Bots in China, aber die Technologie ist für viele Händler noch zu teuer, um sie im E-Commerce einzusetzen, wo die Margen sehr knapp sind. Weiter verbreitet ist die Automatisierung im Customer Care, wenn es um Fragen geht wie: Wo ist mein Paket? Stimmt die Lieferadresse? Auch trifft man oft Chatbots, die in den WeChat-Gruppen automatisiert Werbebotschaften verschicken. Aber wenn es um die Nuancen im Commerce geht, wie die Kunden zu verstehen und Fingerspitzengefühl zu zeigen, dann setzt man auch in China lieber auf echte Menschen. Da sind die Leute in China nicht anders als im Westen.

Eine Besonderheit gibt es aber dann doch, was den Einsatz von Bots in China betrifft: In vielen Gruppen gibt es Chatroboter, die zum Beispiel Wetterprognosen verkünden oder zum Mitspielen bei kleinen Games motivieren. Überhaupt spielt Gamification im E-Commerce in China eine große Rolle. Erst wenn es Coupons gibt oder Gewinnspiele oder ein Incentive für das Teilen von Einladungen, macht das Onlineshopping den Chinesen richtig Spaß. Und bei genau solchen Funktionen werden die Menschen langsam durch Chatbots ersetzt.

Kundenbefragungen zufolge fremdeln viele Deutsche noch im Umgang mit Chatbots. Wie ist das in China?

Ich habe das Gefühl: Auch wenn offensichtlich Bots am Werk sind, scheint dies die Menschen in China nicht zu stören. Es gibt hier ein großes Vertrauen, dass man in der Lage ist, das Beste für sich herauszuholen. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass auch Menschen zum Beispiel im Beratungsgespräch Fehler machen oder eigene Interessen verfolgen. Solche Fehlleistungen sind bei Bots nicht zu erwarten.

Super-Apps wie WeChat haben sich im Westen bisher kaum durchgesetzt. Was glauben Sie, wie sich das beim Thema Conversational Commerce verhält: Wird das chinesische Modell mit den Gruppen-Chats auch zu uns herüberschwappen?

Das könnte ich mir durchaus vorstellen. Schon heute läuft weltweit rund ein Drittel der elektronischen Kontakte über Social-Kanäle. Und für die Millennials sind Chats bereits viel natürlicher als das Schreiben von E-Mails. Deshalb erwarte ich, dass diese Art der Kommunikation noch viel wichtiger wird. Und je stärker der Einfluss der Millennials im Konsumbereich wird, umso mehr kann ich mir vorstellen, dass Chat-basierte Formate im E-Commerce an Gewicht gewinnen. Ich denke, das wird sehr spannend werden.

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Matthias Hell

Matthias Hell ist Experte für E-Commerce-Themen. Der promovierte Politikwissenschaftler beleuchtet für uns seit mehr als zehn Jahren als freier Autor Handels- und Online-Themen, zunächst für Internet World, jetzt für W&V. Zudem ist Matthias für den täglichen W&V Newsletter Commerce Shots zuständig. Neben einigen Fachbüchern hat er zwei Bildbände zur modernen Architektur seiner Heimatstadt München veröffentlicht und widmet sich in seiner Freizeit seiner Leidenschaft für Musik und Literatur. 
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