— Anzeige —

Interview

Ausgabe: 06 / 23 Lesedauer: min

"Es fühlt sich an, als würde die KI eigenständig agieren"

Der Modehändler Bonprix setzt Künstliche Intelligenz an vielen Stellen des Onlineshops und im Backend ein. Sascha Netuschil, Abteilungsleiter Data Science bei Bonprix, erklärt im Interview, wie er den aktuellen Entwicklungssprung bei KI-Systemen erlebt, wo es noch Grenzen gibt und welche Features sein Unternehmen als nächstes plant.

Sascha Netuschil
Head of Data Science / Bonprix
Sascha Netuschil, Head of Data Science bei Bonprix

Herr Netuschil, Bonprix ist bekannt dafür, KI-basierte Lösungen entlang der gesamten E-Commerce-Wertschöpfung anzuwenden. Wo kommt bei Ihnen heute überall KI zum Einsatz?

Das Spektrum reicht vom Thema Personalisierung/Recommendations über die Betrugsprävention und Preisoptimierung bis hin zu internen Planungsprozessen wie Marketingentscheidungen oder der Vorhersage von Unternehmens-KPIs. Auch einkaufsseitig und im Logistikbereich setzen wir auf KI-Lösungen. Zudem nutzen wir KI-Anwendungen zum Beispiel zur automatisierten Erkennung von Produktbildern, die als Hilfsalgorithmen für darauf aufbauende KI-Module dienen. Für die Zukunft planen wir weitere KI-basierte Lösungen, wie zum Beispiel einen Outfit-Generator.

Steckt hinter diesem flächendeckenden Einsatz von KI eine bewusste unternehmensstrategische Entscheidung?

Als ich vor zehn Jahren zu Bonprix kam, waren noch sehr wenige KI-Anwendungen im Einsatz. Ich würde sagen, dass sich das heutige Portfolio aus dem konkreten Bedarf heraus entwickelt hat. Was aber sehr wohl eine strategische Grundsatzentscheidung war, ist, dass wir ein sehr datengetrieben agierendes Unternehmen sind.

— Anzeige —

Künstliche Intelligenz ist ja häufig ein Buzzword für ein breites Sammelsurium an Algorithmus-basierten Lösungen. Inwiefern hat man es bei Bonprix wirklich mit "intelligenten"Systemen zu tun, wenn Sie von KI sprechen?

Algorithmen machen ja zunächst nur das, was man ihnen sagt. Und viele Lösungen, zum Beispiel für die Vorhersage von Geschäftszahlen, sind ja nicht neu, sondern werden schon seit vielen Jahren eingesetzt. Doch sehen wir bei unseren Anwendungen zunehmend einen Sprung, wo die Systeme viel weniger Regeln benötigen, um ihre Arbeit zu machen. Man kann die Algorithmen viel mehr selbst machen lassen und dadurch fühlt es sich so an, als würde die Maschine eigenständig agieren - das ist ein ähnliches Gefühl, wie es viele Menschen bekommen, wenn sie zum ersten Mal ChatGPT nutzen.

Lassen Sie uns mal einen konkreten KI-Anwendungsfall anschauen: Wie funktioniert denn beispielsweise Ihre Lösung für Kaufempfehlungen?

Die Grundalgorithmen dahinter sind im Prinzip ein Standard, der auch von vielen anderen E-Commerce-Unternehmen eingesetzt wird. Auf Basis des Verhaltens eines Users wird berechnet, was ihm über die bereits gesehenen Artikel hinaus auch noch gefallen wird. Dafür werden User-Artikel-Interaktionen aller User ausgewertet und ermöglichen so die Empfehlung von ähnlichen Produkten sowie Komplementärartikeln und vor allem auch persönliche Empfehlungen von Artikeln, die der User noch nicht kennt, die ihm aber wahrscheinlich gefallen werden.

Aus den Interaktionen mit allen Artikeln entsteht eine riesige Matrix, die stark vom Grad der Kundeninteraktion abhängig ist. Je nachdem, ob der Kunde einen Artikel bereits gekauft hat, schon in den Warenkorb gelegt hat oder nur angeschaut hat, variieren die Werte in dieser Matrix. Die Aufgabe der Künstlichen Intelligenz ist es, diese Werte plausibel auszuwerten. Bei Einführung einer solchen Lösung geschieht das auf Basis historischer User-Artikel-Interaktionen, danach wird das mittels fortlaufender Datenerfassung jeweils tagesaktuell neu berechnet. Eine Herausforderung für das System sind neue Artikel oder auch neue Kunden, zu denen kein Vorwissen besteht. Hier gilt es sogenannte Datenzwillinge zu finden, die der KI als Startpunkt dienen.

Wie sieht es mit Systemen aus, die die Customer Journey betreffen? Wie kommt die KI beispielsweise zu treffsicheren Prognosen über Kaufabschlüsse?

Hier setzen wir auf Kategorisierungs- und Klassifizierungsalgorithmen, die auf Basis der großen Anzahl von Beispielen aus der Vergangenheit in der Lage sind, Zweitkaufprognosen zu liefern. Dafür nutzen wir Daten, die uns sagen, was die Kunden bei uns gekauft haben und wie oft sie unseren Shop besuchen. Wenn man genug Beispieldaten hat, lässt sich das gut auf die Zukunft prognostizieren. Es handelt sich hier um einen klassischen Fall von Machine Learning, wo aus einer großen Menge von Daten wiederkehrende Muster gelernt werden.

Wie treffsicher sind die von Ihrem Unternehmen eingesetzten KI-Systeme inzwischen? Wo gibt es noch Grenzen für die Anwendung von KI?

Eine Vorhersage-Sicherheit von 100 Prozent gibt es nie. Deshalb ist es wichtig, sich den konkreten Anwendungsfall anzusehen und zu wissen, wie wichtig ein korrektes Ergebnis hier jeweils ist. Eine falsche Produktempfehlung ist zum Beispiel nicht so schlimm. Geht es aber um Themen wie Betrugsprävention, wollen wir auf jeden Fall verhindern, dass ehrlichen Kunden die Annahme ihrer Bestellung verweigert wird. Das ist schon aufgrund gesetzlicher Bestimmungen wichtig, aber auch weil wir immer nahbar zu unseren Kunden sein wollen. In solchen Bereichen braucht es zusätzlich zur KI deshalb auch immer einen Menschen als letzte Instanz.

ChatGPT und ähnliche KI-Anwendungen haben bei vielen Nutzern zu einem Aha-Effekt geführt. Gibt es bei Bonprix Überlegungen, wie man so etwas auch als Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Endkunden nutzen könnte?

Ich denke, das naheliegendste Einsatzszenario wäre hier das Thema Beratung. Chatbots werden immer besser und in Form einer Art Personal Assistant könnte das auch für ein E-Commerce-Unternehmen wie Bonprix interessant sein, da Mode viel mit Beratung zu tun hat.

Bonprix setzt nicht nur an vielen Stellen KI ein, sondern spricht auch offener als andere Händler darüber. Ist dieser Eindruck zutreffend?

Ja, ich denke schon. Das ist zu einem so, weil das für uns ein sehr wichtiges Thema ist, von dem wir denken, dass sich jedes Unternehmen in dieser Hinsicht für die Zukunft gut aufstellen sollte. Von unserer Größe her haben wir den Vorteil, dass wir das Thema KI intern abdecken können und dadurch wissen, was bei den Systemen "unter der Haube" ist. Doch auch Händler, die das nicht intern lösen können oder wollen, sollten sich mit KI auseinandersetzen. Daneben reden wir auch mit Blick auf unsere Endkunden offen über das Thema Künstliche Intelligenz, da wir uns immer stark um Transparenz bemühen. Ich denke, dass sich bei dem Thema auch in der Einstellung der Konsumenten viel verändert hat. Vor zehn Jahren gab es noch viel mehr Vorbehalte, was mit den Daten geschieht. Heute dagegen verstehen die Kunden, dass sie durch KI eine bessere Nutzererfahrung bekommen.

— Anzeige —

Matthias Hell

Matthias Hell ist Experte für E-Commerce-Themen. Der promovierte Politikwissenschaftler beleuchtet für uns seit mehr als zehn Jahren als freier Autor Handels- und Online-Themen, zunächst für Internet World, jetzt für W&V. Zudem ist Matthias für den täglichen W&V Newsletter Commerce Shots zuständig. Neben einigen Fachbüchern hat er zwei Bildbände zur modernen Architektur seiner Heimatstadt München veröffentlicht und widmet sich in seiner Freizeit seiner Leidenschaft für Musik und Literatur. 
People to follow
Nächstes Thema