INTERVIEW
von Manuela Pauker
"Die Mittelständler müssen aufpassen, dass sie die Hoheit über ihre Daten behalten"
Alle sprechen über Künstliche Intelligenz. Auch im Marketing gibt es viele Fragen: Wo können welche Tools eingesetzt werden? Was bedeutet es für die Kreation? Die Branche ist größtenteils noch in der Experimentier-Phase, sieht sich aber zugleich mit einer exponentiellen Weiterentwicklung der Möglichkeiten konfrontiert. Das macht es nicht einfacher, die richtige Strategie zu finden.
Claudia Bünte, Professorin, KI-Expertin und Unternehmensberaterin, verfolgt das Thema bereits seit mehreren Jahren – unter anderem in ihrer Langzeitstudie "Künstliche Intelligenz im Marketing", von der jetzt die Ergebnisse der vierten Erhebungswelle vorliegen. Das Fazit der Untersuchung: KI ist im Marketing angekommen, doch die Herausforderungen bleiben groß. Welche das sind, erzählt sie im exklusiven Interview mit W&V.
Claudia Bünte
Executive Managing Director/Professorin / Kaiserscholle GmbHFrau Prof. Dr. Bünte, eine zentrale Aussage Ihrer aktuellen Studie ist, dass Künstliche Intelligenz im Marketing jetzt angekommen ist. Setzen Agenturen oder Marketingabteilungen die Tools also schon routinemäßig ein?
Das schleicht sich leise in unser aller Alltag ein, das gilt auch für die Werbeagenturen und die Marketing-Abteilungen. Ob KI genutzt wird, hängt übrigens nicht davon ab, ob das ein sehr digitales oder ein junges Unternehmen ist – was wir zunächst vermutet haben. Den Unterschied macht ausschließlich die persönliche Haltung einer Person. Wir haben in der Studie sechs verschiedene Manager-Typen entdeckt. Fünf davon sind der Technik gegenüber aus unterschiedlichen Gründen positiv eingestellt, einer ist skeptisch. Doch diese Skeptiker werden weniger – in den vergangenen fünf Jahren sind sie um über 67 Prozent geschrumpft.
Woran liegt das?
In den beiden letzten Jahren gab es einen Tipping-Point. Plötzlich sehen die Menschen, also auch die Marketing-Experten, dass KI gar nicht so schlimm ist, sondern viel helfen kann. Das Wissen und die Übung nehmen zu. Es gibt außerdem inzwischen mehr Tools, die man als Lizenz nutzen kann. All das hilft.
Dort, wo KI schon eingesetzt wird – gibt es Unternehmensbereiche, in denen das häufiger passiert?
Es wird sehr stark im Bereich Consumer Insights eingesetzt, und im Bereich Execution, in dem wir Werbung und Vertrieb zusammenfassen. Das sind auch die Bereiche, in denen KI künftig am meisten genutzt werden wird. Dort gibt es die meisten Daten, und somit hat dort auch die KI überhaupt erst das Potenzial zu unterstützen.
Eine KI muss laufend mit Daten gefüttert werden. Viele Unternehmen hoffen, dass ihnen die Anwendungen helfen werden, gegen die großen internationalen Player zu bestehen. Aber haben die hiesigen Unternehmen überhaupt ausreichend Daten dafür?
Es kommt auf den Bereich an. Im Marketing sind wir hierzulande im Hintertreffen. Warum? Im Marketing müssen wir als Erstes die Kunden verstehen, bevor wir für sie passende Angebote, Preise, Inhalte und eben auch Werbung entwickeln können. Ein kleines bisschen mehr an Information macht den Unterschied, ob ich als Firma das Angebot vielleicht eine Sekunde eher fertig habe oder es ein ganz bisschen besser ist als das der Konkurrenz. Da ist die Menge und auch die Qualität der Daten ganz entscheidend. Ein Versandhändler wie Otto hat schon aufgrund der vorhandenen Datenmengen gegen amerikanische Konkurrenten wie Amazon oder chinesische wie Alibaba wenig Chancen – die kleineren Anbieter noch viel weniger, weil es an Daten mangelt.
Mittelständische Unternehmen, die in KI große Hoffnung setzen, sollten sich also nicht allzu sehr darauf verlassen?
Die kleinen Mittelständler müssen aufpassen, dass sie die eigene Hoheit über ihre Daten behalten. Die großen Wettbewerber können sonst viel über die Kleinen lernen – und so einen Riesen-Pool an Informationen abgreifen. Und wer die Daten hat, hat Macht, weil dieses Wissen das bessere Wissen über die Kunden ist. Die Folge: Bessere Angebote machen die Kunden glücklicher, und glücklichere Kunden bleiben.
"Wer die Daten hat, hat Macht, weil dieses Wissen das bessere Wissen über die Kunden ist. Die Folge: Bessere Angebote machen die Kunden glücklicher, und glücklichere Kunden bleiben."
Die Großen haben also einen Vorsprung, der sich nicht mehr aufholen lässt?
In China hat man begriffen, dass künstliche Intelligenz ein Wettbewerbsvorteil ist. Dort hat man sich bereits 2017 als zentrales Staatsziel gesetzt, bis 2030 in Künstlicher Intelligenz weltweit führend zu sein. Ich habe mit sehr vielen Experten, die in China, in Europa und in den USA arbeiten, gesprochen. Sie sind überzeugt, dass uns China fünf bis sechs Jahre bei der Entwicklung voraus ist. Wenn es um KI geht, entspricht das fast schon einem Jahrhundert.
Wo sehen sie in der heimischen Wirtschaft, insbesondere im Marketing-Umfeld, das größte Potenzial? Vertrieb, Targeting oder auch Kreation – was ja sehr kontrovers diskutiert wird?
Schauen wir uns mal das Thema Kreation an. Die KI dafür muss, wie gesagt, mit Daten gefüttert werden. Dann analysiert sie auch Muster, die man als Mensch vielleicht nicht erkennen würde, und reagiert darauf mit einer Vorhersage, was die nächstbeste Aktion oder Antwort sein könnte. Aber was Kreation interessant macht, ist das Ausprobieren von Neuem. Kreative sagen: "Keine Ahnung, wie das wirkt. Wir probieren es einfach mal".
Aber Muster entstehen doch gerade, weil Menschen auf bestimmte Dinge positiv reagieren?
Eine KI geht auf Nummer sicher. Das wird unter Umständen langweilig. Ein vereinfachtes Beispiel: Sie werden innerhalb einer Werbeinsel im Fernsehen in acht Werbespots sehr laut angesprochen. Einer kommt aber auf die Idee, zu flüstern. Da wird man sofort aufmerksam. Das passt aber nicht in das Muster. Das sieht vor, dass man etwas umso wahrscheinlicher macht, je lauter man angeschrien wird. Die KI würde also gar nicht auf die Idee kommen, es leise zu versuchen. Das ändert sich im Laufe der Zeit sicher noch, die KI entwickelt sich ja weiter. Sie wird uns aber nie komplett ersetzen. Wir bekommen im Grunde eine Assistenz dazu.
Wie sehr wird das die Aufgaben im Kreativbereich verändern?
Wir werden viel weniger Detailarbeit machen. Marketing-Jobs werden sich in Richtung Management und Strategie entwickeln. Noch ein Beispiel: Während meiner Ausbildung zur Werbekauffrau sollte ich einmal ein Bild von einem Weihnachtsmann suchen, der nicht älter als 40 Jahre alt sein durfte und in die Kamera schauen musste. Also habe ich stundenlang Bildbände gewälzt. Heute würde man so ein Bild einfach von einer KI produzieren lassen. Das gilt es zu managen.
Aber dafür muss man mit diesen Tools auch umgehen können. Und gerade im Moment ist es einerseits so, dass sich die KI rasant weiterentwickelt. Auf der anderen Seite befinden sich viele Unternehmen gerade noch in der Experimentierphase. Eine schwierige Gemengelage …
Das hat auch unsere Studie gezeigt. Über 61 Prozent der Befragten glauben, dass das Training mit den Tools die größte Herausforderung sein wird. Momentan holen wir mit dem Wissen gerade auf. Man muss sich nur mal vor Augen halten, dass der Begriff ChatGPT in Deutschland in der Google Trendanalyse in Deutschland erst im November 2022 zum ersten Mal auftauchte. Nur ein halbes Jahr später reden alle davon, jeder hat es mal ausprobiert. Nun müssen diejenigen, die mit diesen Tools arbeiten, auch den Umgang damit lernen. Das ist wie ein Taschenrechner. Wenn die Schüler den bei einer Mathearbeit falsch benutzen, erhalten sie auch ein falsches Ergebnis. Das lässt sich so aufs KI-Business übertragen.
Man muss also lernen, die richtigen Fragen zu stellen – oder zu prompten, wie es in der KI-Sprache heißt?
Nicht nur das. Jeder promptet anders. Sie bekommen unter Umständen mit derselben Aufgabenstellung fünf verschiedene Optiken und zehn verschiedene Texte. Wie stellt man sicher, dass das zur Markenführung passt? Also erstellen Sie Prompt-Bibliotheken, die Guidance geben sollen. Trotzdem werden immer leicht unterschiedliche Resultate herauskommen. Auch, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alle gleich geschult sind.
Der Job des Werbetexters wird also doch nicht überflüssig?
Nein. Es mag sein, dass es in Summe weniger Aufgaben werden. Eine aktuelle Studie von Goldman Sachs hat ergeben, dass rund zwei Drittel der Jobs durch KI zumindest einem gewissen Grad von Automatisierung durch KI ausgesetzt sein werden. Aber die entsprechenden Jobs fallen nicht einfach weg. Wir machen andere Dinge. Das passiert immer, wenn eine neue Technologie kommt.
"Eine KI geht auf Nummer sicher. Das wird unter Umständen langweilig."
Inwiefern wird KI für neue Aufgaben im Marketing sorgen?
Ich war bis 2016 bei Coca-Cola und davor für Volkswagen im Bereich Marketing/Strategie tätig – das ist also noch gar nicht so lange her. Zu der Zeit haben wir einmal im Jahr eine große Kampagne geplant. Das wurde einmal abgestimmt, dann hat die Agentur die Details entwickelt. Die wurden dann ausgesteuert und bei Bedarf noch einmal angepasst.
Längerfristige Strategien gibt es aber doch nach wie vor?
Ja. Aber jeden Tag ändert man die Inhalte. Welcher Content ist heute interessant? Wie kriege ich den ausgesteuert? Ich muss also als Abteilungsleiterin mehr Leute für dieses tägliche Managen, für diese Individualität einsetzen, weil auch die Kund:innen anspruchsvoller geworden sind. Wenn etwas nicht tagesaktuell ist, finden sie es langweilig. Obwohl es durch KI viel weniger Arbeit etwa in der Automatisierung gibt, entstehen auf der anderen Seite also sehr viel mehr inhaltliche Aufgaben, weil die Kund:innen anspruchsvoller sind.
Außerdem sind mehr Kanäle zu bedienen.
Man kann Content für Tiktok nicht für Instagram verwenden. Dafür braucht man entweder selbst mehr Zeit, Experten oder eine Agentur. Man ist ständig am Jonglieren.
Was am Ende sogar zu größeren Teams führt?
Ja. Man braucht jetzt verstärkt auch Leute, die mit Zahlen umgehen können und Spaß am Analysieren haben. Viele, die BWL mit Schwerpunkt Marketing studieren, glauben, sie hätten danach nicht mehr viel mit Mathematik zu tun. Den Zahn muss ich meinen Studierenden leider ziehen. Kreation und Analyse wachsen immer mehr zusammen. Und es ist schwer, jemanden zu finden, der das in einer Person vereint.
Auf der Konsumentenseite ist KI ebenfalls ein Thema. Trifft sie bald die Kaufentscheidungen für uns?
In Deutschland ist da das Thema Datenschutz noch ein wichtiger Aspekt. In China oder den USA ist das deutlich anders. Aber in Deutschland werden die Verbraucher:innen auch immer entspannter und geben schneller ihre Einwilligungen, wenn sie auf eine Website gehen wollen. In dem Moment, wenn es bequem wird, werfen die Menschen oft ihre Bedenken über Bord.
Für diese Bequemlichkeit akzeptieren wir viel. Auch, weil wir gar nicht lange drüber nachdenken. Wenn ich etwa regelmäßig Socken bestelle, fragt die KI irgendwann: Deine Socken müssten inzwischen ein paar Löcher haben. Was hältst Du davon, wenn ich wieder welche bestelle? Dann klicke ich eben auf Kaufen. Ich glaube also schon, dass wir da hinkommen. Natürlich eher bei Produkten mit Low Involvement. Beim Auto sieht es schon wieder anders aus. Aber auch dort wird sich das über die Zeit einschleichen.
Kaufentscheidungen sind häufig auch emotional gesteuert. Fällt dieser emotionale Faktor bei der KI komplett weg?
Sie kann möglicherweise Emotionen vorhersagen. Wenn sie mir rechtzeitig den Geburtstag von Freunden anzeigt und fragt, ob sie ein Geschenk bestellen soll, damit ich das nicht vergesse, was ja auch mit Emotionen verbunden ist. Da gibt es sicher Graustufen. Also warum sollte die KI nicht auch eine emotionale Werbung hinbekommen?
Zum Beispiel in der Tourismuswerbung: Sommer, Sonne, Strand, Freiheit - kaufe ich?
Eine KI weiß mit Sicherheit: Wenn es um tollen Urlaub geht, muss immer eine Palme im Bild sein. Das ist eine Werbung, die wahrscheinlich emotional etwas auslöst. Bestimmte Aspekte triggern bei vielen Menschen etwas. Das kann eine KI zwar nicht unbedingt wissen, aber es wirkt ja trotzdem, und die KI lernt wiederum aus den Reaktionen.
Wenn dann vielleicht noch Location Based-Tools dazukommen, wird es noch treffsicherer …
In China passiert das schon, über Wechat zum Beispiel. Die App weiß anhand der IP-Adresse, wo sich ein User aufhält. Wenn diese Person zum Beispiel an einem Starbucks vorbeiläuft, bekommt sie eine Push-Nachricht mit einer Einladung zum Kaffee. Wenn sie vorbeiläuft, verfällt der Coupon kurz hinter dem Café. Das wird in Deutschland auch mehr und mehr passieren. Wobei China inzwischen auch den Datenschutz ein wenig anzieht. Allerdings in erster Linie, um die Konsumenten vor sich selbst zu schützen. Der Staat darf weiterhin alles.
Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Welche KI-Tools nutzen Sie eigentlich selbst – und was sind Ihre Favoriten?
Es hängt von der jeweiligen Aufgabe ab. Zum Beispiel verwende ich "Text to Image" bei Canva oder Languagetool für Word. Was ich noch suche, ist ein Tool für Bilder, die ich schon habe und verändern möchte. Ich muss allerdings auch dazu sagen, dass ich (noch) kaum Geld für Tools ausgebe. Das muss in der Basic-Version funktionieren, weil ich nicht jedes Mal erst 300 Euro bezahlen will. Denn die Tools, die jetzt entstehen, werden gegebenenfalls schnell von noch besseren Tools überholt. Viele Tools sind außerdem im Moment Insellösungen, das macht es sehr komplex. Aber viele Unternehmen arbeiten schon daran, mehrere Anwendungen in einem Tool zusammenzupacken.
Das würde viele Arbeitsprozesse vereinfachen.
Eben, und man will sich ja auch nicht ständig in etwas Neues einarbeiten. Das wird eine Herausforderung für die Chefs und Chefinnen im Marketing: Hinzukriegen, dass an und mit den richtigen Sachen gearbeitet wird. Sicher gibt es Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die alles ausprobieren wollen. Nur: Die verbringen dann sieben von acht Stunden täglich mit den neuen Tools. Das ist für die Mitarbeiter:innen sicher toll, für die eigentlichen Aufgaben aber nicht unbedingt förderlich. Es muss eine Balance gefunden werden.