Analyse

Ausgabe: 09/23 Lesedauer: min

Wie Händler und Marken selbst zur Plattform werden

Noch immer ist der Boom ungebrochen: Nahezu jeden Tag gehen neue Marktplätze an den Start, wie jüngst etwa der von H&M, Katchin oder Lusini. Doch nicht immer lohnen sich die Investitionen in das Plattform-Business - ohne schlüssige Strategie und die nötige Unterstützung aus der Geschäftsleitung wird es schwer, im Markt zu bestehen.

Rund 300 Marktplätze gibt es mittlerweile im DACH-Raum und täglich werden es mehr. Das weckt Begehrlichkeiten - gerade auch, wenn das Wachstum des eigenen Onlineshops zu wünschen übriglässt. Doch dieses Vorgehen ist aus unternehmerischer Sicht gefährlich: "Ein Marktplatz ist ein Mittel zum Zweck, keine Problemlösung", sagt Michael vom Sondern. Der Geschäftsführer des Dienstleisters und Lösungsanbieters OnQuality hat diverse Unternehmen auf dem Weg zur eigenen Plattform beraten und begleitet, darunter Douglas. Für ihn ist ein erfolgreicher eigener Onlineshop Grundvoraussetzung, um selbst zum Plattformbetreiber zu werden. Und das heißt: "Ich brauche vorher schon eine entsprechende Signifikanz im Markt oder in meiner Nische, eine ausreichende Zahl an Bestandskunden und ein gesundes Verhältnis zwischen Akquisekosten und Kundenwert," so vom Sondern. Wenn Kunden im Shop nach dem ersten Einkauf nicht wiederkommen, deute das auf grundlegende Probleme hin, etwa mit dem Fulfillment, der Qualität oder dem Preis. "Und das wird durch ein Marktplatz nicht besser", warnt er.

Michael vom Sondern, Geschäftsführer von OnQuality
"Ein Marktplatz ist Mittel zum Zweck, keine Problemlösung."

Ohne Strategie kein Marktplatz

Ein weiterer Punkt: die Strategie. Was so banal klingt, ist in der Realität oft nicht gegeben. "Ich will wachsen" oder "Ich will die Nummer 1 in meinem Bereich werden" reicht als strategisches Ziel nämlich nicht, um im harten Wettbewerb zu bestehen. Für von Sondern sollte stattdessen die Kundenzufriedenheit und die Kundenbindung im Mittelpunkt stehen. Und das setzt voraus, dass der Händler seine Kunden und deren Bedürfnisse auch wirklich kennt - und sie dann decken kann, indem er über Partner entweder das Sortiment entsprechend erweitert oder vertieft. Auch wer ein anderes Ziel verfolgt: "Um Erfolg zu haben, muss ich in jedem Fall genau wissen, warum ich es tue", unterstreicht er die Bedeutung der Strategie.

Lusini ist diesem Ansatz gefolgt. Ziel des Gastronomie- und Hotellerie-Ausstatter aus Wertingen ist die Kundenzufriedenheit: "Die Integration von Partnermarken ist eine ideale Möglichkeit, um die Bedürfnisse unserer Kunden optimal zu erfüllen und unser Angebot weiter zu stärken," sagt Boris Steinhagen, CEO der Lusini Group. Das Außendienstteam, das eng im Kontakt mit den Kunden steht, hat das Bedürfnis nach einem größeren Angebot mit weiteren Marken klar identifiziert und an die Geschäftsleitung rückgemeldet. Anfang August ist der eigene Marktplatz in Deutschland online gegangen.

Basis ist der Onlineshop mit rund 40.000 Produktvarianten, neudeutsch SKUs, weitere 80.000 sollen in der nächsten Zeit über Partner dazukommen. Das Sortiment aus vier Eigenmarken soll teils erweitert, teils ergänzt werden: In Segment Porzellan beispielsweise sei die Markenaffinität und das Markenimage oft entscheidend, hier sollen Wettbewerber für mehr Vielfalt sorgen. "In anderen Produktgruppen und Sortimenten, in denen unsere eigenen Marken nicht über eine umfassende Kompetenz oder ein tiefes Sortiment verfügen, suchen wir gezielt nach Partnern, die diese Lücken schließen können", so Steinhagen.

Klares Commitment von oben

Weitere Voraussetzung ist ein klares Bekenntnis der Unternehmensleitung zum Einstieg in das eigene Marktplatz-Geschäft. Denn: Die Kosten für das technische Setup und ein drei- bis fünfköpfiges Team summieren sich. "500.000 Euro im Jahr sollten mindestens als Budget verfügbar sein", meint vom Sondern und rechnet weiter: "Das macht in drei Jahren eine Investition von 1,5 Millionen, die von oben gedeckt sein muss". In der Regel erst dann, so seine Erfahrung, sei nämlich mit Profitabilität der eigenen Plattform zur rechnen – selbst wenn der Umsatz kräftig steigt. Zu klären gelte es schließlich auch, ob das nötige technische Setup verfügbar ist, sprich: ob das heute funktionierende Systeme marktplatztauglich erweitert werden kann.

Anfang August hat der Gastronomie- und Hotellerie-Ausstatter Lusini seinen Marktplatz ins Rennen geschickt. (Bild: Lusini)

Diese Fragen standen auch für Lusini im Mittelpunkt. Unterstützt durch die Berater von Kempter & Reuter erfolgte die Abwägung, ob es ein Dropshipping-Modell oder - wie geschehen - ein Enterprise-Marktplatz werden soll sowie der Aufbau eines inzwischen fünfköpfigen Marktplatzteams, das von der strategischen Ausrichtung über die Partnerbetreuung bis hin zum operativen Betrieb alles abdeckt.

Außerdem fällte das Unternehmen die Entscheidung gegen eine technologische Eigenentwicklung und für die Marktplatz-Lösung Mirakl. Die Faktoren Zeit, Budget und verfügbare technische Expertise waren Steinhagen zufolge die ausschlaggebenden Kriterien. Der Onlineshop Lusini.com blieb als Basis bestehen, Mirakl ergänzt das System um die marktplatzspezifischen Prozesse rund um die Produktdatenintegration, Bestands- und Preisinformationen sowie das Bestellwesen. "Die Wahl der richtigen Marktplatz-Software ist von grundlegender Bedeutung," betont Stefan Heuberger, Head of Marketplace bei Lusini, "Es erfordert sorgfältige Recherche und Bewertung, um sicherzustellen, dass die gewählte Plattform alle Anforderungen erfüllt und skalierbar ist. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Partnerschaft mit dem richtigen Technologieanbieter eine solide Grundlage für den Erfolg des Marktplatzes bildet."

USP für Käufer und Partner

Ebenso wichtig: ein klarer USP. "Wer nicht binnen 90 Sekunden sagen kann, was sein Alleinstellungsmerkmal ist, was ihn von anderen unterscheidet und wo er Mehrwert bietet, wird es sehr schwer haben", ist vom Sondern überzeugt. Das könne die exzellente Kaufberatung sein, ein kuratiertes Sortiment, erstklassiger Kundenservice, ein Einrichtungs- oder Aufbauservice oder auch ein Abo-Modell. Lusini-CEO Steinhagen umreißt die Vision so: "Unser Hauptziel ist es, DIE Anlaufstelle für Hotel-, Restaurant- und Catering-Kunden zu werden, indem wir ihnen die Möglichkeit bieten, ihre bevorzugten Marken und Produkte an einem Ort zu finden. Wir möchten nicht nur eine bloße Einkaufsquelle sein, sondern eine umfassende Plattform, auf der unsere Kunden alles finden, was sie für ihr Geschäft benötigen - auch digitale Lösungen und Serviceangebote."

Mehrwert braucht es aber nicht nur für die Käufer, sondern auch für die Marken, die als Marktplatzpartner gewonnen werden sollen. Schließlich müssen sie überzeugt werden, warum es für sie besser ist, selbst über einen Marktplatz zu verkaufen und dafür auch noch Umsatzprovision abzugeben, wenn sie auch schlicht als Lieferant fungieren könnten. Vom Sondern nennt hier Kundendaten: Wer seinen Partnern Informationen liefern könne, wer wann was kauft, könne entscheidende Pluspunkte sammeln. Weiteren Mehrwert können Hilfestellungen beim Fulfillment oder beim Marketing liefern.

Lusini will bei potenziellen Partnern durch Reichweite und den Zugang zu neuen Kundengruppen punkten, mit Vermarktungsmöglichkeiten durch gezielte Werbemaßnahmen, prominente Platzierung oder besondere Angebote sowie durch Beratungsleistungen seines Außendiensts, der auch die Marktplatzprodukte unterstützen soll. Dafür achtet das Wertinger Unternehmen darauf, dass die potenziellen Partner und ihre Produkte optimal zur Zielgruppe passen und die Anforderungen eines professionellen Marktplatzes erfüllen können. Dazu gehört auch hochwertiger Content wie Produktbilder und -beschreibungen inklusiver branchenspezifischer Informationen. Die Lieferung müssen die Partner selbst abwickeln können, doch verspricht Lusini Partnern, die wenig Erfahrung mit dem Verkauf über Marktplätze haben, Unterstützung beim Aufbau der nötigen "Marketplace Readiness". 

Schrittweise bietet mehr Sicherheit

Uneins sind Marktplatz-Experten, ob eine schrittweise Einführung oder ein Start mit breitem Marktplatz-Angebot sinnvoll ist. Georg Sobczak, Regional Vice President DACH von Mirakl, warnt vor Pilotprojekten und Testphasen, weil künftige Partner nicht frühzeitig einbezogen werden könnten. Außerdem fehle dann oft die geschäftsstrategische Entscheidung. Vom Sondern hingegen ist Fan einer schrittweisen Einführung - "nicht zu verwechseln mit einem Klein-Klein durch die Praktikanten", wie er betont. Auf diese Weise könne ein Unternehmen Erfahrungen sammeln und Sicherheit gewinnen. Denn: Gravierende Probleme beim Start können einen wichtigen Partner für immer verprellen. Deswegen sei es sinnvoller, mit guten, aber nicht gerade den Top-Partnern innerhalb einer Produktkategorie zu starten.

In jedem Fall, so seine Überzeugung, braucht es im Unternehmen ein Fehler- und Lernkultur. "Auch wenn ich hypothesenbasiert einiges antesten kann, beim Einstieg in einen eigenen Marktplatz gibt es keinen Plan für die kommenden drei Jahre, der er einfach funktioniert und dem man strikt folgen kann," so von Sondern. Und auch Lusini-CEO Steinhagen betont: "Die Einführung eines Marktplatzes erfordert auch eine Veränderung in der Unternehmenskultur und den internen Prozessen. Ein gut durchdachtes Change Management ist notwendig, um alle relevanten Teams und Abteilungen einzubeziehen und sicherzustellen, dass alle auf denselben Seiten sind."

6 wichtige Entscheidungen für den eigenen Marktplatz

1. Voller Einsatz oder halbe Kraft?

Wie wichtig ist der eigene Marktplatz fürs Geschäftsmodell? Wie viel Personal und Ressourcen stellen Sie dafür bereit? Welche Abteilungen sind involviert? Was braucht das Projekt Marktplatz, um erfolgreich zu sein?

2. Ergänzende oder erweiternde Sortimente?

Sollen die Produkte der Marktplatz-Partner das eigene Angebot in den bestehenden Kategorien ergänzen oder durch neue Kategorien erweitern? Wagen Sie direkte Konkurrenz durch Marktplatz-Angebote oder steht das eigene Sortiment weiter im Fokus? Wie stark wollen Sie das Angebot der Marktplatz-Partner kuratieren?

3. Wettbewerb oder Nebeneinander?

Suchen Sie für jedes Marktplatz-Angebot genau einen Anbieter - oder lassen Sie Konkurrenz zwischen verschiedenen Partnern zu? Und wenn ja: Welche Kriterien führen in die Buybox?

4. Altbekanntes stärken oder neue Wachstumsfelder suchen?

Soll der Marktplatz das bestehende Geschäft des Shops erweitern – oder suchen Sie neue Ufer, zum Beispiel durch internationale Expansion oder die Anbindungen von Services und Dienstleistungen?

5. Selbst machen oder auslagern?

Brauchen Sie zum Aufbau des Marktplatzes Dienstleister – und wenn ja, welche? Und welche Services wollen Sie Marktplatz-Partnern anbieten? Welche Partei übernimmt Payment, Versand, Retourenabwicklung, Kundenservice?

6. Reichweite kaufen oder organisch wachsen lassen?

Wie sieht der Marketing-Plan für den neuen Marktplatz aus? Welche eigenen Kanäle können Sie zur Bewerbung nutzen? Wie können Sie Reichweite kaufen - und wie viel wollen Sie dafür ausgeben?

Christiane Fröhlich

Als freie Autorin beobachtet Christiane Fröhlich, welche Trends, Hypes und Flops die Commerce-Branche alljährlich produziert. Außerdem entstehen an ihrem Schreibtisch Artikel zu den technischen Aspekten von Web-Präsenzen: Shopsoftware und IT-Architektur, alle nötigen Lösungen rund um den Webshop, Usability oder Logistik sind die Themen. Dem E-Commerce und der Internetwirtschaft ist die Diplom-Journalistin seit 1997 verfallen; seither schreibt sie darüber, wie sich im Internet (mehr) Geld verdienen lässt.
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