Einordnung
Daumenschrauben für Marktplatz-Seller
Vor rund einem Jahr schien klar zu sein: Online-Marktplätze gehören zu den größten und nachhaltigsten Gewinnern der Pandemie. Die Zahl der Konsumenten, die viel oder ausschließlich auf Marktplätzen einkaufen, war von rund 40 auf rund 60 Prozent hochgeschossen. Der Umsatz-Anteil von Online-Marktplätzen am gesamten Online-Umsatz stieg in Deutschland auf über 60 Prozent an. Vor allem Amazon profitierte vom Marktplatz-Boom: Das Unternehmen gewann in den Pandemiejahren 2020 und 2021 fast 25 Prozent seiner heutigen Prime-Kunden neu dazu. Die Umsatzprognosen großer Beratungshäuser wie Oliver Wyman oder OC&C fielen mehr als rosig aus: Online-Marktplätze sollten bis 2024 weltweit umsatzseitig um durchschnittlich 30 Prozent zulegen, der Kanal seinen Marktanteil binnen weniger Jahre verdoppeln.
Rote Zahlen und der neue Fokus auf Profitabilität
Von dieser Aufbruchstimmung ist in diesem Jahr nicht viel geblieben: Mit der weltweiten Wirtschaftskrise zog auch in die Marktplatz-Branche Ernüchterung ein. Das direkte Aufeinandertreffen von zwei Umsatz-Boomjahren (begleitet von hohen Investitionen) und einem Krisenjahr mit Inflation und Kaufzurückhaltung in den Geschäftszahlen brachte viele Plattform-Betreiber zum Straucheln. Egal ob Amazon, eBay, Otto oder Zalando - alle legten zum Jahresbeginn mehr oder weniger erschreckende Zahlen vor.
Die Reaktion aus den Geschäftsführungen ließ nicht lange auf sich warten - und oft waren die Marktplatz-Drittanbieter der Plattformen die Leidtragenden: Otto verkündete im Februar das Aus seiner Spielwarentochter mytoys; der einzige Spielwaren-Spezial-Marktplatz wird Ende des Jahres geschlossen.
Amazon erhöhte im Rahmen einer ganzen Reihe von Sparmaßnahmen die Kosten für sein Fulfillment-Programm und schränkte die Zusammenarbeit mit Großhändlern auf seinem Marktplatz ein. Zalando führte eine Grundgebühr für den Marktplatz-Verkauf ein, veränderte die Gebührenstruktur des Händlerprogramms Zalando Connect und beendete im Zuge einer neuen Konzentration aufs lukrativere Premium-Segment die Zusammenarbeit mit einer ganzen Reihe an kleineren Marken.
Die Sparmaßnahmen zeigten Wirkung; bei allen großen Plattformen fielen die Quartalszahlen zur Jahresmitte deutlich positiver aus. Amazon vermeldete sogar mitten in der Wirtschaftskrise den "erfolgreichsten Prime Day aller Zeiten".
Gute Nachrichten für die Plattform-Betreiber also - aber was bedeutet das für Seller und Brands, die auf den Marktplätzen verkaufen?
Hohe Zahlenkompetenz und Flexibilität sind gefragt
Die Lernkurve für die meisten Marktplatz-Manager war in den letzten Jahren extrem steil. Einstieg während Pandemie-Zeiten, extreme Umsatzzuwächse in kurzer Zeit, Logistik-Probleme, kleine Teams... die Herausforderungen waren vielfältig und die Zeit kurz. Andererseits war aber auch das Umsatzpotenzial groß und die Aufbruchsstimmung greifbar. 2023 zog die Ernüchterung ein - und die Erkenntnis: Marktplatz ist doch nicht so einfach.
Für klassische Trial-and-Error-Verfahren ist kein Platz mehr; erfolgreich ist dagegen, wer seine Zahlen im Griff hat und unsentimental auf Herausforderungen reagiert. Das bedeutet: Neue Plattformen aufschalten, wenn alte Kanäle insolvent gehen oder nicht mehr profitabel sind. Produkte auf einer Plattform de-listen, auf der sie sich nicht mit Gewinn verkaufen lassen. Marketing-Kampagnen konsequent anpassen. Content ständig optimieren. Pricing immer im Blick behalten und anpassen. Dienstleistern auf die Finger schauen. Das Marktplatz-Business ist längst kein Halbtagsjob mehr.
Die Frage nach der Strategie
Auch die Sinnfrage "Was wollen wir eigentlich auf Marktplätzen?" muss gestellt werden - denn der Plattform-Verkauf ist ja kein Selbstzweck. Aus der Antwort auf diese Frage ergeben sich sehr unterschiedliche Marktplatz-Strategien.
Wer auf Plattformen vornehmlich Umsatz machen will, wird sich beispielsweise ganz anders aufstellen als ein Unternehmen, das vor allem darauf achtet, wie sich ein Kanal unterm Strich rechnet. Wer neue Märkte und Zielgruppen erschließen will, adressiert unter Umständen andere Plattformen als Unternehmen, die Marktplätze vornehmlich als Schaufenster für ihre Produkte nutzen wollen, um dafür möglichst viel Reichweite zu erzielen. Soll das Marktplatz-Geschäft im Wholesale-Bereich abgewickelt werden, in dem Marktplätze wie andere Dritthändler beliefert werden, oder soll das Plattform-Business vom Unternehmen selbst geführt werden? Soll Saison-Ware verkauft werden oder vornehmlich Überbestände, Retourenrückläufer und B-Ware? Ist ein internationales Geschäft geplant? Sollen bestehende Sortimente genutzt oder marktplatzspezifische entwickelt werden?
Nur mit einer klaren Prämisse wird der Erfolg des eigenen Marktplatz-Geschäfts messbar - auch und besonders in Krisenzeiten.