Analyse

Ausgabe: 09/23 Lesedauer: min

Internationalisierung: Think global, act local

Internationalisierung über Marktplätze eröffnet nicht nur neue Umsatzperspektiven. Vor allem Hersteller sollten internationale Marktplätze im Blick behalten, damit ihre Marke in den relevanten Märkten optimal präsentiert wird. Mit jedem neuen Marktplatz nimmt allerdings die Komplexität zu.

Die anhaltende schwierige Wirtschaftslage setzt Onlinehändler, Marken und Hersteller unter Druck, aber auch neu auf den Markt drängenden chinesischen Marktplätze wie Shein und Temu oder die zur Alibaba Group gehörenden Player Tmall, Trendyol, Miravia oder AliExpress, üben einen gewissen Druck aus.

Shein, ein reiner Manufacturer-to-Consumer-Marktplatz, verdrängt mit einem durchschnittlichen Verkaufspreis von sieben Euro vor allem in den niedrigen Preissegmenten Fast-Fashion-Wettbewerber, ebenso Temu in nahezu allen Produktsparten. Während Shein mit einer Produktionszeit unter 14 Tagen eine rasende Agilität in der Supply-Chain hinlegt, reißt Temu vor allem mit sehr spezifischen Personalisierungsalgorithmen und ausgefeilten Gamification Elementen junge Kundenkohorten an sich.

Die Produktionsbedingungen und die Qualität der Waren auf diesen chinesischen Plattformen ist oft mehr als kritisch zu betrachten. Aber die Schnelligkeit und die agilen Prozesse, die diese neuen Player vorweisen können, können für viele alteingesessene Marken bedrohlich werden.

Für viele Händler, Marken und Hersteller wird es zunehmen wichtiger eine Antwort auf die schwierige Gesamtsituation zu finden: Die Wirtschaftslage erfordert eine Risikodiversifizierung und die chinesische Konkurrenz erfordert strategische Veränderungen.

Am wichtigsten ist für alle Beteiligten aber ein kundenzentriertes Denken und Handeln, das dazu führt, dass genau das richtige Sortiment zu dem Zeitpunkt verfügbar ist, an dem der Kunde es braucht und will. Und vor allem, da, wo der Kunde sich aufhält: auf Marktplätzen.

Viele Länder, viele Marktplätze, viele Strategien

Die Ausweitung der eigenen Präsenz auf weitere Länder und Marktplätze bedarf einer Strategie für jeden Marktplatz und für jedes neue Land. Die Kunden in den europäischen Ländern und Märkten haben völlig unterschiedliche Kulturen, Vorlieben und unter Umständen auch physiologische Unterschiede, die beispielsweise für die Fashionbranche sehr wichtig werden können. Außerdem sind die unterschiedlichsten gesetzlichen Rahmenbedingungen und Regulierungen, verschiedene Währungen sowie völlig unterschiedliche Retouren-Raten, -Abwicklungen und Kosten zu beachten.

Ein unbedarfter Markteintritt mit der Vorstellung "Hey, bei uns daheim läuft unser Sortiment super, das läuft hier auch" führt schnell dazu, dass ein Markteintritt gegen die Wand gefahren wird. Das musste die US-Fashionbrand GAP feststellen, die mit einem unveränderten US-Sortiment und -Konzept eine Kette auf dem europäischen Kontinent eröffnete, um dann 2004 aufzugegeben und die Filialen an H&M zu verkaufen. Erst 2014 trat GAP dann über Zalando und About you online wieder in den europäischen Markt ein und ist bisher auch nur dort erhältlich. Ein lokaler Partner kann hilfreich sein beim Markteintritt.

Für Hersteller hat die internationale Marktplatz-Präsenz noch einen weiteren Aspekt: "Viele Hersteller geben Tausende von Euro aus, um ihre Marke und ihre Produkte auf Amazon bestmöglich zu präsentieren. Wie sie aber beispielsweise auf Allegro oder CDON präsent sind, ist ihnen komplett egal, weil sie selber noch niemals auf diesen Marktplätzen waren", weiß Henning Heesen, Gründer und Geschäftsführer der Marktplatz-as-a-Service-Plattform Marketsupply, die für Hersteller das Listing und die operative Abwicklung auf internationalen Marktplätzen übernimmt. "Wenn dann aber irgendein Händler die Produkte völlig unterbelichtet und unscharf in seiner Garage fotografiert und diese Bilder dann hochlädt, wird die Marke auf diesem Marktplatz so repräsentiert und die Leute denken sich, das ist aber ein Ramschprodukt und gehen zur Konkurrenz", so Heesen. Den Herstellern sei das Problem aber überhaupt nicht bewusst, weil sie die meisten Marktplätze, die in den 28 Ländern Europas neben Amazon existieren, nicht kennen.

Quelle: ecom consulting, gominga - the review company

Andere Länder, andere Sortimente

Gute Gründe also, sich trotz oder gerade wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Krise näher mit dem Thema Internationalisierung über Marktplätze zu beschäftigen. Der erste Schritt lautet: Marktrecherche. "Ich empfehle Händlern und Herstellern zunächst eine klassische Potenzial- und Wettbewerbsanalyse", so Amazon-Manager Kimmeyer. Hier helfen externe Quellen oder die Unternehmen analysieren einfach bei Amazon die Angebotstiefe in der entsprechenden Kategorie. Gute Ansatzpunkte, um die Wettbewerbssituation in dem entsprechenden Markt einzuschätzen, würden auch Kundenrezensionen liefern.

Daneben ist für den Internationalisierungsprofi auch noch das Thema Produktion und Supply Chain ganz wesentlich, das aber oft ignoriert wird. "Häufig richten Unternehmen die Entscheidungsfindung, in welches Land sie als Nächstes gehen, an der geografischen, lokalen Nähe und nicht an den Umsatzpotenzialen oder einer effizienten Supply Chain aus", sagt er. "Und oft unterschätzen sie das Volumen, das damit einhergeht. Insofern sollte man die Supply Chain sehr genau durchdenken." Fragen, die sich hierbei stellen, seien unter anderem:

  • Wo wird produziert?
  • Wo wird die Qualität geprüft?
  • Wie schnell kann man nachproduzieren
  • und Out-of-Stock-Bestände wieder auffüllen?
  • Oder auch ganz einfach: Gibt es Luftfracht?

Auch die Frage, welche Marktplätze in den relevanten Ländern bespielt werden sollen, will gut überlegt sein. Denn nicht in jedem Land ist automatisch Amazon der wichtigste Player. "Geheimtipps sind CDON in Schweden, eMag in Rumänien oder auch Fruugo als weltweiter Marktplatz", sagt Henning Heesen. "Bei Galaxus in der Schweiz ergeben sich Chancen, weil man da Papiere ausfüllen muss und deswegen keiner hingeht." Noch eine Stufe darüber sei CDON in Norwegen. "Da muss man Papiere ausfüllen und spricht zusätzlich auch die Sprache nicht. Da sind 99 Prozent der Händler schon desinteressiert. Aber der, der da hingeht, verkauft die Playmobil-Manege vor Weihnachten nicht für 169, sondern für 360 Euro. Und der Norweger hat sie damit auch noch günstig bekommen", lacht der Marketsupply-Chef. In ein paar Jahren, so schätzt Heesen, gibt es für jeden Hersteller und Händler 100 bis 150 relevante Marktplätze, die sie bespielen sollten. Damit einher geht die Frage: Mache ich das alles selber oder lagere ich es aus. "Der Trend bei den Herstellern geht aktuell dahin, dass sie alles selber machen", erzählt Heesen. "Gefühlt würde ich sagen: 70 Prozent der Hersteller machen es selbst, zehn Prozent gar nicht und der Rest nutzt Dienstleister."

Doch weil viele Unternehmen Probleme haben, die passenden Mitarbeiter zu finden und das entsprechende Wissen inhouse aufzubauen, dauere es oft neun bis zwölf Monate, bis ein Marktplatz aufgeschaltet ist. "Deswegen glaube ich, dass im nächsten Jahr Marktplatz-as-a-Service-Dienstleister an Bedeutung gewinnen", sagt er. "Dann machen die Hersteller die wichtigsten Marktplätze wie Amazon selbst. Und den Rest überlassen sie den Dienstleistern."

Die Marktplatzstrategie von edding

Vom klassischen Edding-Marker, der zu einem Synonym für eine ganze Produkt-Kategorie wurde, und für nahezu alle Untergründe und Materialien verfügbar ist, über Kreativbedarf bis hin zum Permanent-Spray, hat Edding viele verschiedene Schreibwaren im Angebot. Vertrieben wird das Sortiment über den Fachhandel, aber auch über D2C-Kanäle wie den eigenen Onlineshop und Marktplätze.

Edding agiert bisher auf Amazon und deren Ländermarktplätzen, sowie seit mehr als einem Jahr auf Bol.com. Für die ganze Branche Papier, Büro und Schreibtisch liegt der Onlineanteil bei 25 Prozent, deshalb will der Hersteller auch da präsent sein, wo die Kunden anzutreffen sind: auf Marktplätzen. Als Kernmärkte betrachtet der Hersteller neben Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Niederlande sowie die Schweiz, Spanien und Italien. Und möchte dort weitere Marktplätze bespielen, aktuell steht der Start auf Manomano und dem polnischen Marktplatz allegro auf dem Plan. 

Strategisch betrachtet Edding Marktplätze als eine Möglichkeit, die Marke auch in Ländern zu präsentieren, in denen die Marke Edding noch nicht so bekannt ist. So gelangt Edding in das Bewusstsein der Kunden, und kommt auch - im Rahmen des auf Drittplattformen Möglichen - an Daten. Nicht nur Kundendaten im Sinne von persönlichen Daten, sondern vor allem auch Klick- und Konversionszahlen. Die Datenauswertungen helfen dann auch dabei, eine Brücke zu den B2B-Kanälen von Edding zu schlagen und Synergieeffekte mit der Datenbasis zu erzeugen.

Reines Marketing ist der Kanal Marktplatz deshalb für Edding aber auf keinen Fall, sondern wirft Ertrag ab, wie Christina Schröder Director 3rd Party eCommerce bei edding, erklärt: Zwar ist der Einzelstift an sich nicht profitabel, aber deshalb achte Edding darauf, mit Mehrfachpackungen profitable Gebinde zu schaffen, damit die Marktplatz- und Logistikkosten nicht die Profitabilität verschlingen. Deshalb sind Marktplätze in der Gesamtbetrachtung profitabel für Edding. Die Gestaltung des Sortiments ist auch der Knackpunkt, so führt Schröder aus: "Es gilt das richtige Sortiment für den richtigen Marktplatz auszuwählen.“ Auf Amazon hat Edding ein historisch gewachsenes Sortiment mit rund 2.500 Artikeln. Zum Roll-out auf weiteren Marktplätzen rüstet Edding gerade die eigene Infrastruktur auf und nutzt für die Ausspielung der Produkte die Middleware Channelengine. Der Start erfolgt mit einem deutlich kleineren, harmonisierten Basisortiment über alle Marktplätze hinweg, dann wird perspektivisch das Sortiment und die Gebinde an den jeweiligen Marktplatz angepasst. "Wir verfolgen da einen Test&Learn-Approach." Als erfolgreichstes Marktplatz-Produkt hat edding das Permanent-Spray identifiziert. Ein durch speziell entwickelte Sprühköpfe leicht aufzutragender Acryllack, der beispielsweise für Upcycling-Projekte ein Ergebnis verspricht, das sonst nur mit Lackiergeräten erreicht werden kann.

Ingrid Lommer

ist die Plattform-Expertin der Internet World-Redaktion. Sie behält Online-Marktplätze in Deutschland, Europa und der Welt im Blick, verfolgt die aktuellsten Änderungen auf dem Amazon-Marktplatz und späht mögliche Verfolger aus - weshalb sie auch Marktplatz-Anwandlungen von TikTok, Shopify oder Meta hochspannend findet. Ihre Expertise vertieft sie alle zwei Wochen beim Talk mit Valerie Dichtl im Podcast-Format "Let's talk Marketplace". Natürlich ist sie deshalb auch Ansprechpartner Nummer 1, wenn es um die Ausgestaltung von Plattform-Themen auf den Events ihres Verlags geht. Dabei liegt ihr besonders der Austausch und das Networking innerhalb der Community der "Marktplatz-Menschen" am Herzen.

Jochen G. Fuchs

Jochen G. Fuchs, a.k.a. E-Fuchs, betreut das Themenfeld KI und Tech bei W&V und ist Kurator der CommerceTECH Conference. Der Journalist, Autor und Verleger ist seit 1999 in wechselnden Rollen im digitalen Handel tätig gewesen und schreibt seit mehr als zehn Jahren über Digital Commerce. Sein Interesse gilt vorwiegend den Themen Künstliche Intelligenz, CommerceTECH (ShopTech, RetailTech), Customer Experience und Nachhaltigkeit im digitalen Handel.

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